In Anlehnung an meine Diplomarbeit „Schauspiel studieren im Jahr 2026“ mit Aljoscha Zöller.
gedanken
was machst du für ein theater?
„Groß war das Theater immer da, wo es gelang, das Überindividuelle aufzuzeigen und die Begrenztheit des menschliches Seins ansatzweise zu überschreiten (…) Das vielseitige Ringen um ein neues Kunstideal des Theaters, wie es für das ausgehende 19. und 20. Jahrhundert kennzeichnend ist, bietet die Gewähr dafür, dass ihm bei der Formung eines neuen Welt- und Menschenbildes ein nicht zu unterschätzender Anteil zukommen wird.“
Otto C. A. zur Nedden
In Folge knapper Kassen bei Städten, Kommunen und den Ländern sowie der aktuellen Sparpolitik der Bundesregierung, findet seit einigen Jahren ein stetiger Kulturabbau in Deutschland statt. Immer mehr Theater werden zusammengelegt, geschlossen oder sehen sich gezwungen, ihr Ensemble zu verkleinern, Mitarbeiter zu entlassen oder schlechter zu entlohnen. Aber auch das Publikum passt sich dieser Entwicklung an. Das Auditorium klassisch subventionierter Sprechtheater (vor allem im ländlichen Raum) besteht, bis auf wenige Ausnahmen, aus dem sogenannten „Silbermeer“, also Zuschauern, die überwiegend grauhaarig sind. Dennoch ist die darstellende Kunst an sich nicht weniger gefragt als zuvor. Sie entwickelt sich nur weiter, lebt in anderen Kleidern neu auf und festigt sich in Film und Fernsehen, oder in der freien Szene wieder. Und wo wird heute nicht mehr „gespielt“? Wir werden regelrecht davon überschwemmt. Ob bewusst durch Live-Performance, Tanztheater, Musical und Konzertshow, Gesellschaftsspiel, Casino oder Wette, Zuhause auf dem Computer und der Konsole – Oder unbewusst in den Medien und dem allgemein öffentlichen Raum. Überall sind wir umgeben von der Abstrahierung der Realität. Bänker spielen mit Millionenbeträgen, die in der Physis nicht einmal existieren. In Zeiten des Youtube und der Fernsehgeräte, wird unser Spiel bis zur Perversion getrieben. Aber ist das wirklich das „Spiel“, was Schiller meinte, als er sage: „Denn (…) der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“? Michael Schindhelm schrieb 2002 zum 20-jährigen Jubiläum des Theatertreffen in Berlin:
„Der Schauspieler steht in einer schweren Stunde der Entscheidung. Reiht er sich unter die Soldaten der Globalisierung, des Wachstums, des Fortschritt-Glücks, hilft er mit, die Zentrifuge weiter zu beschleunigen, oder hütet er sich vor Flucht und Amok, bremst er herunter bis zum Stillstand, macht er sich auf, die erotische Zeit der Gegenwart zu entdecken, entwickelt er eine Technik des Loslassens, des Nicht-mehr-höherschneller-weiter-teurer-sein-Wollens und -Müssens, der Selbstbescheidung und der Selbstbefreiung vom Terror der Möglichkeiten.“
Michael Schindhelm
Und wohin entwickelt sich nun das Theater?
die geschichte:
Die ersten spirituellen Riten der Ägypter (2000 – 1700 v. Chr.), die als „Theateranfang“ bezeichnet werden könnten, betrafen nicht den Menschen mit seinen Alltagsfragen und -schwierigkeiten, sondern es handelte sich um Tänze, um den Gottheiten zu huldigen.
Die Griechen schrieben im Höhepunkt der Antike (ca. 300 – 600 v. Chr.) mit Autoren wie Aischylos, Sophokles und Euripides hochkomplexe, philosophische Texte, die sich zum ersten Mal mit Schicksalsfragen beschäftigten; Wie greifen die Götter in unser irdisches Leben ein?
Mit der Renaissance (15. / 16. Jahrhundert) versuchten Shakespeare und Co. die Themen der Griechen in den gesellschaftlich- realen Kontext zu versetzten. Während die griechischen Dramatiker jedoch an mythischen Themen festhielten, setzt die Renaissance den Menschen, das Irren und Streben, den Konflikt von Gut und Böse, das Seelenleben in den Vordergrund.
Mit der Epoche der Aufklärung (ca. 1650 – 1800; die Zeit des Goethe, Schiller und Kleist), setzt man auf die Logik und rationales Erklären durch physische Gesetze. Die Dramen wurden psychologischer, genauer. Das übertriebene, aufgeblähte und pompöse der Renaissance war nicht weiter von Interesse. Der Anspruch, mit dem Theater die Welt zu verändern und Ideale auf zu zeigen wurde deutlich.
Mit der Industrialisierung um 1800, entwickelte sich das Theater immer tiefer in den Realismus, Naturrealismus bis in die Modere. Passend zum weiter ausgeführten gesellschaftlichen Drang nach Technik und Logik, treten Autoren wie Ibsen (1820-1906) und Hauptmann (1862-1946) auf, die nicht weiter idealisieren, sondern versuchen so wirklichkeitsgetreu wie möglich zu (be)schreiben; Sozialkritische Bürgerdramen, die die Gesellschaft mit all ihren Problemen, Seiten und Tücken spiegeln, sind jetzt am Zug. So wird auch mit dem Method Acting und ähnlichen Schauspiel-Techniken versucht, auf der Bühne einen so-real-wie-möglichen-Raum zu schaffen, in dem sich der Darsteller verwirklichen kann.
Exemplarisch zu dieser Entwicklung verändert sich auch die „vierte Wand“ – das Verhältnis zum Publikum. Weg von gemeinsamen Tänzen, hin zum nichtmehr wahrnehmen der Zuschauer und versinken in einer so wahrheitsgetreu wie möglichen nachgestellten Spieglung der Realität. Man könnte die Entwicklung des Theaters bis dahin, also als ein, sich immer weiter Zuspitzen bezeichnen – ein Trichter, der von geistigen Hemisphären auf ein Nadelöhr der Wirklichkeit im Hier und Jetzt zugeht.
der film:
Seit der Erfindung des Filmes um 1900 herum spaltet sich ein Teil der jahrtausendealten Schauspielkunst ab und vertieft sich in Film und Fernsehen weiter in die Realität. Dabei wird auf der Leinwand eine scheinbar perfekte Illusion geschaffen, die auch durch keinen hustenden Zuschauer mehr gestört werden kann. Und alles ist möglich: Dinge wie explodierende Planeten, fliegende Fabelwesen und sich bekämpfende Raumschiffe, werden vor unserem Auge völlig real und tatsächlich sichtbar. Die Phantasie des Zuschauers wird quasi nicht mehr benötigt. Dies verdanken wir der rasenden Entwicklung der Animationstechnik – und die, hat gerade erst angefangen! Die Spielfigur für Nintendo´s Super Mario musste noch bei ihrer Erfindung im Jahre 1981, mit einem Schnauzbart entworfen werden, da es zu kompliziert war einen Mund zu erstellen. Heute sieht man in Filmen wie Avatar oder Der Hobbit kaum mehr den Unterschied, zwischen am PC erstellten- und „echten“ Personen. Und wer weiß was in weiteren 30 Jahren Technikfortschritt alles möglich ist? Vielleicht macht sich der Mainstream-Film als solcher irgendwann ganz frei von der aufwändigen Schauspielerei und entfaltet sich als neue, eigenständige Kunstform, mit noch nie da gewesenen Ausdrucksmöglichkeiten?
die bühne:
Während der Spielfilm den Realismus weiter ausfeilt und durch den technischen Fortschritt auf eine höhere Ebene anhebt, muss sich das Theater einen neuen Weg bahnen. Ein Teil windet sich heraus aus der gesellschaftlichen Wirklichkeits-Nachahmung und sucht eine tiefere Tatsächlichkeit. Vorbereitet im frühen 20. Jhd. durch Künstler wie Antonin Artaud, die den Sinn des Theaters nicht mehr in der dramaturgischen Vorbereitung und als aufwändiges Konstrukt sahen, sondern als im Moment entstehendes Gesamtwerk, revolutionierte sich die gesamte Bühnenkunst. Es geht weg vom ansehnlich, „schönen“- und hin zum realen, puren Moment. Im Zuge der ’68er Bewegung, breitet sich diese Kunstform immer weiter aus: Action–Theater, Living Theatre, Publikumsbeschimpfung. Die vierte Wand wird eingerissen. Es ist in jeder Hinsicht, ein sich befreien von gesellschaftlichen Zwängen. Später bekommt der Begriff der Performance eine immer größere Bedeutung, sodass sie bis heute die verschiedenen Kunstformen miteinander verbindet. Wie es immer der Fall ist wenn Randgruppen modern werden, findet man einige der bekanntesten Vertreter dieser Kunstform nicht mehr auf der Straße oder in der Off-Szene, sondern in renommierten Theatern, Gallerien, im Fernsehen und sogar in der Politik. Bei ihren Veranstaltungen wird oft die Grenze zwischen Zuschauer und Darsteller komplett aufgelöst. Man diskutiert, entwickelt zusammen – manchmal sogar unfreiwillig – nimmt das was da ist, und verbindet es mit dem, was man vorbereitet hat. Dabei kann der Zuschauer zum Performer werden, dieser zum Schauspieler und umgekehrt. Eine klare Trennung zwischen Akteur und Beobachter besteht in dieser extremen Form der Performance nicht mehr. Jeder ist Alles. Dieser eine Moment der Präsenz ist das „Theater“, die Kunst. Wie man sieht wird in dieser radikalen Art der Darstellung, der ursprüngliche Schauspieler überflüssig.
Ein weiteres Phänomen des modernen Theaters sind die Experten des Alltags, die ebenfalls die eigentliche Schauspielkunst von den Bühnen vertreiben. Es sind Menschen, die im „echten Leben“ Experten zu einem bestimmten Thema sind und in ihrer Spezialität auf die Bühne geholt werden. Also Laien, die die eigentliche Aufgabe der Schauspielers übernehmen – wiederum in jeder Hinsicht eine Entwicklung, die den Schauspieler auf lange Zeit unnötig machen würde.
Wofür brauchen wir also noch die Schauspielerin? Was macht sie für die Gesellschaft unabdingbar?
theater/film:
Diese „endgültige“, radikale Performance – ist! Sie ist Live. Sie ist im Moment des Entstehens pur und echt. Der Performer ist Künstlerin und Kunst zugleich. Marina Abramovic gibt es nicht vor, sie sitzt wirklich 90 Tage lang, sechs Tage in der Woche, immer sieben Stunden am Stück auf einem Stuhl im New Yorker MoMA und lässt sich von insgesamt 750.000 Besuchern ununterbrochen in die Augen schauen. Pjotr Pawlenski nagelt seine Hoden tatsächlich öffentlich auf dem Kopfsteinpflaster des Roten Platzes in Moskau fest und tut nicht so als ob. Diese Art der Performance ist immer direkt. Sie kann ohne die Zuschauer und deren direkte Präsenz und das im Moment sein, nicht entstehen. Dadurch spricht sie uns offensiv an. Wenn wir dort sind, können wir uns ihrer nicht entziehen. Vom Mittel, nicht vom Inhalt her, könnte man sie mit den Gladiatorenkämpfen im Römischen Reich vergleichen, bei denen wir dem „Akteur“ beim Überleben in der Arena zuschauen. Wir sind ganz bei ihm. Fühlen mit ihm und verfolgen seine Situation mit all unseren Emotionen.
Der Film hat andere Qualitäten. Er ist abgeschlossen. Er erzählt Geschichten. Er hat ein Anfang und ein Ende. Er ist das moderne Märchen. Auch die Drehbuchautoren schreiben nach einem Konzept, welches von Aristoteles zum erstem mal erkannt und aufgeschrieben wurde, jedoch schon seit Jahrtausenden unterbewusst in uns wirkt; Nach einer Struktur, die jedem guten Märchen und jeder packenden Geschichte inne wohnt. Der Film stillt das Verlangen nach dem charakteristischen Vergnügen von Furcht, Mitleid und Katharsis, welches nach Aristoteles ein Urverlangen unserer Spezies ist. Seit Menschengedenken erzählen wir uns Geschichten. Sie heben uns aus dem Alltagstrott, fordern unsere Sensibilität und Hellhörigkeit und rütteln an unserem kreativen Potential. Außergewöhnliches verschafft sich Realität. Gelingt es, sind wir existentiell erleichtert, ja innerlich befriedet. Vielleicht rollt eine Freudenträne oder ein befreiender Seufzer verschafft sich Raum. Das charakteristische Vergnügen an Geschichten ist die Begegnung mit dem Außergewöhnlichen.
Das Theater hat eine andere, ganz besondere Art zu uns zu sprechen und in uns einzugreifen. Weder erzählt es „bloß“ abgeschlossene Geschichten, mit denen wir mitfiebern, auf die wir jedoch keinerlei Einfluss haben, noch eröffnet es „nur“ den Live-Moment der Entstehung einer „endgültigen“ Performance. Beim Schauspiel weiß jeder und jede, dass der Darsteller oder die Darstellerin nicht wirklich das erlebt oder erlebt hat, was auf der Bühne vorgegeben wird. Es wird ein „so könnte es aussehen“ aufgeführt und dadurch dem Publikum die Freiheit geschenkt, mit dieser Behauptung umzugehen. Für diese Ansicht bereitet der Schauspieler sich Monatelang vor und geht zusammen mit der Regisseurin und der Dramaturgie auf die Reise, bis es sich für alle Beteiligten „stimmig“ anfühlt – was will erzählt werden und wie wird es erreicht? Gleichzeitig schafft die schauspielernde Person einen Austausch zwischen sich und dem Publikum. Sie erstellt einen ganz persönlichen Raum, der von der Phantasie und Interpretation der Zuschauer live gefüllt werden kann. Dabei ist allen bewusst, dass sie nur eine Möglichkeit der dargestellten Realität aufzeigt. Den Betrachtern ist freigestellt, sich dazu zu positionieren und sich spielerisch in Bezug zur Aufführung zu setzten.
Das Theater schenkt uns einen Moment in dem wir uns und gesellschaftliche Phänomene emotional reflektieren können und dabei trotzdem einen Abstand dazu halten; uns zurück lehnen, dem Zauber einer Geschichte hingeben, uns dem Verlangen nach Mitleid, Furcht und Katharsis ausliefern, jedoch nicht (vorm Fernseher) versacken, sondern live dabei sind.
Für mich persönlich hat das Theater heute dadurch eine ganz besondere Chance – aber auch die Aufgabe, diese zu nutzen – mit den Aspekten der Phantasie und des Live-Seins umzugehen. Sich dessen bewusst zu sein und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, auszuschöpfen. Die Schauspielerin oder der Schauspieler, müssen sich empathisch in eine Rolle und ihre Situation hinein fühlen, aber gleichzeitig das Publikum wahrnehmen. Sie müssen durchlässig sein für den Moment und einfühlsam für die Rolle. Sie sind das Bindeglied zwischen der Phantasie und der Realität.